Sieben Jahre Rot-Grün an der Regierung - ein Resümee zum Abschied
(ein Beitrag für Kritik und Kreation)
In unserer August-Prognose hatten wir warnend begründet, weshalb wir dachten, Gerhard Schröder könne - allen sonstigen Prognosen zum Trotze - erneut Bundeskanzler werden. Bald danach verbesserten sich tatsächlich die Umfrageergebnisse zugunsten der SPD. Dank des CDU-Wahlkampfes (Mehrwertsteuererhöhung als "neue CDU-Ehrlichkeit", Schöhnbohms & Stoibers Pöbeleien ["Ostdeutsche=potenzielle Kindermörder" & "...nicht überall leben so kluge Bevölkerungsteile wie in Bayern... Frustrierte dürfen nicht über Deutschlands Zukunft bestimmen"] oder der Flat-Tax Kirchhofs) konnte der SPD ein Erfolg vor der CDU gelingen, wenn man die Stimmen der CSU einfach abzieht. Unsere Prognose lag also knapp daneben.
Würden wir heute die "Rechenkünste" der SPD bemühen, so wäre unsere Prognose eingetreten. Doch sind die Regeln der Deutung eines Ergebnisses vor und nicht nach dem Ergebnis anzugeben, will man sich nicht den Ruf von Trickbetrügern einhandeln.
Daher geben wir lieber zu, dass unsere Prognose doch nicht eingetreten ist.
Ob der zweite Teil unserer Prognose noch eintreten wird (Große Koalition unter einem Kanzler Schröder von Gnaden der CDU) ist noch nicht entschieden.

Rot-Grün ist abgewählt. Und dies ist Anlass für eine kurze Zusammenfassung, welche Errungenschaften wir einer Regierungszeit von sieben Jahren danken dürfen.

Sozialpolitisch sind keine positiven Ergebnisse zu finden.
Das gegenwärtige Rentenniveau wurde gesenkt, das künftige Rentenniveau durch Teilprivatisierung der Rentenversicherung gar auf ein Niveau gedrückt, dessen Tiefe noch nicht allen bewusst geworden ist.
In ganzseitigen Anzeigen hat die Regierung mitgeteilt, durch "Hartz IV" seien bereits 2,6 Millionen Menschen aus der Sozialhilfe geholt worden. Das ist so zutreffend wie makaber. Es ist richtig, dass die Sozialhilfe nun ALG II heißt, doch ist dies keine Verbesserung. Der Text der Anzeigen-Kampagne hätte mit etwas Ehrlichkeit heißen können: 2,6 Millionen Menschen, die früher nur Sozialhilfe bekamen, erhalten jetzt sogar noch weniger.

Wer lange nachdenkt und das Positive sucht, erinnert sich vielleicht noch der Kindergelderhöhung aus der ersten Legislaturperiode. Aber hat diese mehr Ausgleich geschaffen? Nein, denn den ALG II-Beziehern wird es angerechnet, d. h. sie bekommen praktisch kein Kindergeld mehr.

Günter Grass warb im Wahlkampf wieder für die SPD und warnte vor der eingeschwärzten Republik ohne nach den Ursachen zu fragen. Grass hatte schon im Wahljahr 2002 die rot-grüne Bundesregierung dafür gelobt, dass sie als erste einen Armutsbericht vorgelegt hatte; und das ist richtig, doch sollte man sich diesen Bericht der Bundesregierung auch als Lektüre vornehmen.
Wie haben sich nun Armut und Reichtum in der Bunderepublik während der letzten Jahre verändert?
U.a. steht da zu lesen, dass der Anteil der reichsten 10 Prozent der Bevölkerung am Gesamtbesitz der Gesellschaft im Jahre 1998 noch bei 44 Prozent lag, aber bis 2003 noch auf 47 Prozent gesteigert werden konnte. Lebten 1998 schon 12 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, so waren es 2003 bereits 14 Prozent. - Wohlgemerkt: dies ist erst das Ergebnis für 2003.
"Hartz IV" und die dritte Senkung des Spitzensteuersatzes auf nie dagewesene 42 Prozent traten erst 2005 in Kraft und wir müssen nicht um noch größere Umverteilungserfolge von Rot-Grün bangen. Im nächsten Armutsbericht wird mit Gewissheit eine weit höhere Verarmung der Armen, wie eine weit höhere Bereicherung der Reichsten berichtet werden.

Aber wie geht es denjenigen, die sich im Mittelfeld zwischen Ärmsten und Reichsten wissen? Sie durften sich in Gerhard Schröders Gunst glauben, als noch von einer Mitte gesprochen wurde, die eine "neue" sei.
Aber auch diese "Mitte" irrte, folgte sie der Annahme, ihre Position habe sich unter Rot-Grün verbessert. Gerhard Schröder pflegte sich zwar im Wahlkampf des gesunkenen Eingangssteuersatzes zu rühmen, nur hat dieser nicht einmal das gesunkene Lohnniveau ausgleichen können.
Zur sachlichen Einschätzung verhilft die Betrachtung des Verhältnisses von Bruttoinlandsprodukt zu preisbereinigtem und realem Netto-Lohn. Nehmen wir die Werte von 1991 mit 100 Prozent an, so ist das Bruttoinlandsprodukt seither auf 118 Prozent gestiegen, das Lohnniveau hingegen auf 98,5 Prozent gefallen. Kurzum: der Anteil des Nettolohnes am BIP ist stark gesunken, mithin auch die Binnenkaufkraft, was wiederum das Wachstum stagnieren lässt.

Ob sich noch viele des Verbotes der Scheinselbstständigkeit aus der Zeit nach der Regierungsübernahme von 1998 erinnern? Immerhin, dachten dereinst viele, doch gilt es seit Jahren schon nicht mehr. Heute wird sie gar aus Mitteln der Arbeitsagentur gefördert.
Apropos Arbeitsagentur. Als gute Leser Orwells erwiesen sich die Regierenden und haben neue Maßstäbe in kreativer Sprachpolitik gesetzt. Nicht zufällig wurde die Rede zur "Agenda 2010" im Jubiläumsjahr George Orwells gehalten.
Konter-Reformen sind heute Reformen. Zersetzung sozialer Errungenschaften heißt "Reformstau der Kohlregierung aufbrechen". Fordern heißt "Fördern". Zwang heißt "Motivation". Arbeitszwang heißt euphemistisch "aktivierende Sozialpolitik".
Das Arbeitsamt heißt "Arbeitsagentur" - und wir dürfen darin so ausweg- wie auswahllos "Kunden" sein. Wer das Wort "Kunde" nicht mehr mit Wahlfreiheit verbindet sondern in diesem Kontext zu verinnerlichen gelernt hat... wird sich so ein Mensch noch wehren, wenn er nur noch in einer Nahrungs-Agentur etwas zu essen bekommen wird?

Die Sprachpolitik war von zentraler Bedeutung in der Rot-Grün-Variante des neoliberalen Umerziehungsprogrammes. Und erste Erfolge sind durchaus nicht zu bestreiten. So gibt es inzwischen Menschen, die glauben, dass sich Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverlängerung beseitigen ließe und durch Senkung der Lohnnebenkosten ließen sich Arbeitsplätze schaffen.
Dass bei steigender Produktivität der Arbeit Vollbeschäftigung nur durch schrittweise drastische Arbeitszeitverkürzung erreicht werden könnte, hat hingegen nur noch eine Minderheit.verinnerlicht.

Schließlich wird sich noch der eine und andere Ökologe des Ausstiegsvertrages der Bundesregierung mit der Atomindustrie erinnern. Aber hoffentlich auch der beachtlichen Rest-Laufzeit.
Viele Atomkraftwerke also werden aus technischen Gründen schon vorher abgeschaltet werden müssen. Ein Kabarettist sagte dazu einmal trefflich, dass dieser Vertrag ein Vertrauensbeweis in die Atomindustrie sei.

Sie denken jetzt vielleicht, uns ermangele es an Ausgewogenheit in unserer Zusammenfassung? Aber nein, in unserer Recherche sind wir auf genau drei positive Errungenschaften der scheidenden Bundesregierung gestoßen.

1.
Homosexuelle können jetzt heiraten.
2.
Die Prostitution, das älteste Gewerbe, ist jetzt ein anerkanntes.
3.
Das Dosenpfand wurde eingeführt.
Ob diese drei Errungenschaften ausnahmslos der Umsetzung politischer Ziele der Grünen zu danken sind?
An dieser Stelle sind wir in der Bewertung noch unsicher. Es könnte durchaus auch Interessen seitens der SPD gegeben haben.
1.
Homosexuelle lassen sich nun einfacher zur Zwangssolidarität in der Bedarfsgemeinschaft von Hartz IV pressen.
2.
Prostitution ist jetzt eine ICH-AG wie jede andere und fällt damit aus der Arbeitslosenstatistik.
Darüber hinaus kann nach Streichung aller Zumutbarkeitskriterien auch noch das ALG II gekürzt werden, wenn sie sich nicht für jeden angebotenen Arbeitsplatz prostituieren.
3.
Das Dosenpfand bedient auch die Ideologie der Selbstverantwortung, denn wer kein Geld mehr vom ALG II aber noch viel Monat übrig hat, kann auf die Papierkörbe verwiesen werden, wo mancher sozial verantwortungsbewußte Wohlhabende dezent seine Pfandflasche eingeworfen haben könnte.
Na also! Wer wollte uns Einseitigkeit nachsagen!?

Zu Otto Schily haben wir uns bewusst noch nicht geäußert. Er dürfte problemlos in die Große Koalition wechseln. Auch der CDU wird ein Bundesinnenminister, der "Das Boot ist voll" oder "Fremdarbeiter" ohne bayrischen Akzent über die Lippen bringt, lieber als CSU-Beckstein sein.
Immerhin ist Schily auch der Erfinder der Rasterfahndung für sogenannte "Schläfer", deren hervorstechende Eigenschaft darin bestehe, unauffällig zu sein.
Solche intellektuellen Leistungen genießen unseren Respekt nicht zuletzt deshalb, weil wir uns für zu auffällig halten, um je davon persönlich betroffen zu werden. Warum sollten wir uns mit den Unauffälligen im liberalen Sinne gar solidarisieren?
Die Unauffälligen sind gewarnt, denn Schily ist ihnen auf der Spur und kämpft um ihretwillen für die tatunabhängige Vorfeldermittlung. Kurz: Verdächtig ist der Unauffällige besonders dann, solange er nichts getan hat. Wozu brauchte man die tatunabhängige Vorfeldermittlung sonst?

Ein offener Blick in die Welt verbietet sich fast, wenn man von Gerhard Schröder den Horizont der "Deutschland AG" zu denken gelernt hat.
Zwar werden nach wie vor weltweit mehr Menschen durch Menschenrechtsverletzungen ermordet als durch Terrorakte, aber was interessiert dies eine Regierung, die sich im Anti-Terror-Kampf auf einer Seite mit Russland und China weiß?
Im Streichen von Schulden befreundeter Staaten hat die rot-grüne Bundesregierung neue Maßstäbe gesetzt. Der Auftritt mit dem "lupenreinen Demokraten" Putin in einer Talk-Show war dem Bundeskanzler sensationelle 6,8 Milliarden DM aus Steuergeldern zur Schuldenstreichung wert.

Eine letzte Bemerkung zur SPD: Gerhard Schröder hat das Kunststück vollbracht, frontal gegen das eigene Parteiprogramm anzuregieren. Nachträglich soll ein Programm geändert werden, das so erstaunliche Einsichten enthielt wie: Leiharbeit ist zu verbieten.

Abschließend möchten wir die Politik der letzten Jahre für die Mehrheit der Wähler mit wenigen Worten in SPD-Neusprech zusammenfassen:
Mehr Risikobereitschaft zum Billigstjob!
Lohnverzicht ist Solidarität mit Exportunternehmen im globalen Wettbewerb!
Sozialabbau ist Rettung des Sozialstaates!
Mit Arbeitszeitverlängerung die Arbeitslosigkeit verringern!

Wie sagte Orwell doch so kurz wie trefflich?
Frieden ist Krieg!

Eigentlich müsste man sich noch fragen, woran Rot-Grün letztlich gescheitert sein könnte, aber "gescheitert" - "Wieso gescheitert?" würde der Bundeskanzler verwundert fragen. Wie wird "Scheitern" demnächst heißen? Ein erster Vorschlag kam von Doris Schröder-Köpf: "suboptimales Verhalten".
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