Als sie einfach starben...
Vor dreißig Jahren: Von Hungertod wagte in Stalingrad niemand zu reden / Von Hans Girgensohn


Immer mehr Todesfälle ohne vorausgegangene Verwundung oder Krankheit alarmieren Ende 1942 die Führung der in Stalingrad eingeschlossenen 6. Armee. Vermutet werden Unterkühlung und Erschöpfung; von Verhungern wagt keiner der etwa 600 Ärzte im Kessel zu sprechen. Um Klarheit zu gewinnen, wird einer der Pathologen der 6. Armee, Dr. med. Hans Girgensohn, der sich außerhalb des Kessels befindet, angefordert:
Ich sah [beim Einfliegen] in der weißen Schneedecke eine braune Kraterlandschaft. Stabsarzt d.R. Dr. Seggel wies mich ein (...) wo ich auch die beiden Sektionsgehilfen vorfand, und veranlaßte über die Divisionsärzte die direkte telephonische Meldung der zu untersuchenden Todesfälle an mich. Ein Pkw mit Fahrer und ausreichend Benzin (bei strengster Rationierung im Kessel) stand zu meiner Verfügung. (...)
Als Sektionsraum wurden ein Erdbunker, wenn ein Dorf vorhanden war, ein vorübergehend geräumtes Zimmer in einer Hütte, ein Eisenbahnwaggon oder ein Zelt zur Verfügung gestellt. Einmal führte ich drei Sektionen hintereinander im Freien in einer Schneemulde aus, bei minus 30 Grad und unter dem Geknatter wiederholter Tieffliegerangriffe. Aus einem kleinen Bunker wurde immer wieder heißes Wasser gebracht, damit ich meine in Gummihandschuhen steckenden erstarrten Finger auftauen konnte.
Die meisten Hungertodesfälle stellte ich bei der unglücklichen 113. Infanteriedivision fest. Wie mir berichtet wurde, waren die Zahlmeister mit Orden ausgezeichnet worden, weil sie bereits im Herbst vor Eintritt der Schlammperiode mit zeitweiliger Unterbrechung des Lebensmittelnachschubs die Rationen gekürzt und dadurch ausreichend Vorräte für diese Zeit gehortet hatten. Beim "Lastenausgleich" im Kessel (einige Divisionen hatten alles Nachschubmaterial verloren) mußte die gut versorgte Division alles abgeben und wurde mit ihren schon vorher unterernährten Soldaten zum bevorzugten Opfer des Hungertodes.
Schwierig war das Problem zu lösen, glashart gefrorene Leichen wieder aufzutauen. Meist glückte es den Sanitätsdiensten der einzelnen Truppenteile, den Toten in einem gedeckten Raum bis zur Sektion liegenzulassen. Oft konnte der Tote aber erst gefroren aus den Stellungen zurückgebracht werden. (...) im Tal der Rossoschka sezierte ich mehrmals in einem Erdbunker. In der Nacht vorher mußte ein Sanitäter das eiserne Öfchen heizen und die Leiche immer wieder am Ofen wenden, um sie aufzutauen. Einmal war der übermüdete und erschöpfte Mann eingeschlafen. Das Ergebnis war eine links gefrorene und rechts angebratene Leiche.
Nach der Sektion von drei Hiwis (Hilfswillige kriegsgefangene Sowjetsoldaten, die in deutschen Einheiten dienten) erkundigte sich der junge deutsche Offizier der Einheit bei mir nach der Todesursache. Zu meiner Diagnose "Verhungert" erklärte er offensichtlich völlig überrascht: Das ist doch ausgeschlossen, die bekommen die gleiche Verpflegung wie wir, drei Scheiben Brot und einen halben Liter guter Pferdelleischstippe (Wasser mit 4 bis 5 kleinen Fleischwürfeln!).
Die folgenschwere Diagnose konnte nur gestellt werden, wenn eine andere Todesursache auszuschließen war, die ich immerhin in der Hälfte der Fälle fand. Und die pathologischen Veränderungen mit dem vollständigen Schwund des Fettgewebes, der Verkleinerung (Atrophie) des Herzens und der Leber, dem Schwund der Skelettmuskulatur und der Erweiterung der rechten Herzkammer waren erst bei der Wiederholung in einer größeren Zahl von Fällen beweisend.
Der Hungertod ist undramatisch. Das nur noch mit kleinster Flamme brennende Lebenslicht löscht wie eine verbrauchte Kerze plötzlich aus. Nicht selten kam es vor, daß ein in Stellung liegender Soldat dem die Runde machenden Unteroffizier erklärte, "mir geht es gut, ich will jetzt etwas essen" (ein kleines Stückchen Fettfleischkonserve, die als besonders hochkalorisch bevorzugt eingeflogen wurde), und bei der nächsten Runde tot aufgefunden wurde.
Die Sektion ergab dann regelmäßig im völlig fettgewebsfreien Gekröse des Dünndarms eine pralle gelbe Füllung aller Lymphgefäße mit dem resorbierten Fett, wie man sie sonst nur in anatomischen Injektionspräparaten sehen kann. Der Beginn der Verdauungsarbeit hatte den Kreislauf überfordert und zum Tode geführt.
In der Zeit vom 19. bis 31 . Dezember machte ich 50 Leichenöffnungen. Genau 25 dieser Toten waren verhungert, viele der anderen Fälle hochgradig abgemagert. Das genügte als unwiderlegbarer Beweis. In der Silvesternacht schrieb ich den Bericht an den Armeearzt und übergab ihn am Neujahrsmorgen dem Stabsarzt Dr. Seggel der ihn sofort an Generaloberst Paulus weiterleitete. (...)


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